Gerechte Löhne / Soziale Sicherheit

[Rede von Friedhelm Hengsbach SJ am 01. Mai 2012 in Weinheim]

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Frau Merkel verkündet: „Die Zahl der Arbeitslosen hat in diesem Jahr den niedrigsten Stand seit 1989 erreicht. Deutschland geht es gut“. Die Stimmungslage, wie sie in den Medien und in Zeitungsanzeigen verbreitet wird, lautet: „Wir sind noch mal davon gekommen. Die deutsche Wirtschaft wird zum Musterknaben in Europa. Deutschland habe die tiefgreifenden sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen bereits hinter sich, die Portugal, Spanien, Italien und Frankreich noch bevorstehen, sagt man. Die deutschen Banken scheinen nach dem massiven Engagement des Staates durch Bürgschaften, Kapitalbeteiligungen und die Übernahme vergifteter Wertpapiere stabilisiert zu sein. Die Zentralbank schwemmt Liquidität ins Bankensystem, damit diese die riskanten Staatsanleihen peripherer Länder aufkaufen. Die Wirtschaft boomt, die Auftragsbücher der Exportindustrie sind prall gefüllt. Die Steuereinnahmen sprudeln wie lange nicht. Die Sozialkassen quellen über. Die Tarifabschlüsse versprechen zum ersten Mal seit langem reale Lohnzuwächse. Die Wachstumserwartungen werden nach oben korrigiert. Ein Jobwunder treibt die deutsche Gesellschaft auf die Schnellstraße der Vollbeschäftigung.


1. Ein Jobwunder – und miserable Arbeitsverhältnisse?

Ein Jobwunder? Ein Wunder, das dunkle Schatten wirft. Die flatternden Fahnen, die ein deutsches Jobwunder ankündigen, vernebeln die Tatsache, dass viele der neu geschaffenen Arbeitsverhältnisse miserabel und unzumutbar sind. Gerade sie haben in den letzten Jahren drastisch zugenommen.

Belegschaften wurden gespalten. Kernbelegschaften haben gute Arbeit, ein Einkommen, von dem sie angenehm leben können, sind abgesichert gegen die Risiken der Arbeitslosigkeit, schweren Krankheit, Altersarmut. Sie nutzen die betrieblichen Angebote der Weiterbildung, finden nach einer Kündigung eine vergleichbare Arbeit. Dies gilt jedoch nicht für die Randgruppen der atypisch und prekär Beschäftigten – vorwiegend Frauen, Alleinerziehende, jüngere und ausländische Arbeitnehmer, für diejenigen, die unfreiwillig in Teilzeit arbeiten, in geringfügiger Beschäftigung, befristet, als Leiharbeiter und Scheinselbständige erwerbstätig sind. Unter den 2011 neu Eingestellten war die Hälfte befristet.

Der größte sozial- und arbeitspolitische Skandal eines extrem reichen Landes sind die Niedriglöhne. Fast ein Viertel aller Erwerbstätigen, mehr als ein Zehntel der Vollzeiterwerbstätigen arbeiten im Niedriglohnsektor – vor allem im Einzelhandel, Gastgewerbe, bei Serviceleistungen und im Gesundheitswesen. 2011 mussten eineinhalb Million Erwerbstätige ihr Arbeitseinkommen durch Hartz IV-Leistungen aufstocken.

Welche Folgen hat diese beispiellose Ausbeutung und Unterdrückung im deutschen Jobwunder? Armut auf Grund von Arbeitslosigkeit und Armut trotz Arbeit. Die davon Betroffenen sind nicht wirtschaftlich eingebunden, sind sozial ungesichert und gesellschaftlich nicht anerkannt. Vor allem Jugendlichen, der kostbarsten Ressource einer Gesellschaft, wird die Lebensperspektive geraubt. Allen prekär Beschäftigten droht die Altersarmut. Wer im Niedriglohnsektor beschäftigt ist, müsste 64 beitragspflichtige Jahre aufweisen, um eine gesetzliche Rente auf Hartz IV-Niveau zu beziehen.

„Armut ist gemachte Armut“ – über diese vier Worte hat eine Realschulklasse in Düsseldorf eine ganze Schulstunde nachgedacht und diskutiert. Dabei haben die Jugendlichen entdeckt, dass Armut und Arbeitslosigkeit sowie die extrem ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen kein Tsunami sind, sondern politisch gewollt und verursacht. Seit Kohl, Schröder und Merkel wurden die sozialen Sicherungssysteme demontiert, gesellschaftliche Risiken denen angelastet, die davon betroffen sind, die solidarischen Anteile abgesenkt und die private Vorsorge propagiert. Die Arbeitsverhältnisse wurden mutwillig oder fahrlässig entregelt, Flächentarifverträge schlecht geredet, betriebsnahe Lösungen empfohlen, gewerkschaftliche Solidaritäten gebrochen. Gesetze zur Beschäftigungsförderung, Leiharbeit, Zeitarbeit, geringfügigen Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Ich-AGs sollten den Arbeitsmarkt flexibilisieren. Zudem sollte das bankenbestimmte Finanzregime in Deutschland systematisch in den angloamerikanischen Finanzkapitalismus umgebaut werden. Zweckgesellschaften und abgeleitete Finanzgeschäfte außerhalb der öffentlichen Aufsicht und Kontrolle wurden zugelassen, Investmentgesellschafen wurden als Vermögensverwaltungen eingestuft und steuerlich begünstigt.

Was fällt der regierenden Koalition dazu ein? Eine winzige Regelsatzerhöhung für Hartz IV-Empfänger, die verfassungswidrig ist. Eine Zuschuss-Rente, die an denen vorbeischrammt, die sie nötig hätten. Eine Betreuungsgeld, das prekär Beschäftigten, die Hartz IV-Leistungen beziehen, abgezogen wird. Eine mildtätige Gabe für 60jährige Frauen, die ihre pflegebedürftigen Eltern und Schwiegereltern privat betreuen. Dabei gehört Hartz IV abgeschafft, denn es ist ein Bürgerkrieg der politischen Klasse gegen die arm Gemachten.

Was nottut, ist eine radikale Korrektur der vergangenen Fehlentscheidungen. Um den Niedriglohnsektor zu beseitigen, müsste ein Mindestlohn gesetzlich verankert werden – durch erweiterte Allgemeinverbindlichkeitserklärungen und eine intelligente Anwendung des Entsende-gesetzes und des Gesetzes zur Arbeitnehmerüberlassung. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit müsste durchgesetzt, die sachgrundlose Befristung abgeschafft werden.

Korrigiert werden muss auch die modische, marktradikale und wirtschaftsliberale Abwertung der solidarischen Sicherungssysteme aus der Zeit vor den beiden Finanzkrisen des neuen Jahrhunderts. Sie seien zu teuer, zu wenig rentabel und auf Dauer nicht finanzierbar, wurde ihnen vorgeworfen. Die private Vorsorge wurde dagegen als überlegen gefeiert. Doch das während der letzten zwei Jahre überraschende Wirtschaftswachstum und der Rückgang der Arbeitslosigkeit einerseits, die weiter schwelende Finanzkrise anderseits haben uns die Augen geöffnet, dass die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung an stabile Wachstumsraten, eine steigende Produktivität und einen hohen Beschäftigungsgrad geknüpft ist, während auch die private Altersvorsorge nur dann erfolgreich abschneidet, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, die nicht automatisch eintreten. Zum Glück ist das Individualisierungs-, Kommer-zialisierungs- und Privatisierungsfieber abgeklungen. Die vergangenen Jahre haben Pluspunkte dafür gesammelt, dass gesellschaftliche Risiken nicht privat, sondern besser solidarisch abzusichern sind. Allerdings sollten diese Sicherungssysteme von den feudalen Überresten befreit werden. In einer demokratischen Gesellschaft sind getrennte Sicherungssysteme für Bauern, Beamte, Richter, Soldaten, Arbeiter und Bergleute völlig unzeitgemäß. Wenn zudem der Anteil der Arbeitseinkommen am gesamten Volkseinkommen tendenziell sinkt, während der Anteil der Kapitaleinkommen daran tendenziell steigt, wäre ein Abkopplung der solidarischen Sicherung von den Arbeitseinkommen fällig. An die Stelle einer erwerbswirtschaftlichen Solidarität würde eine republikanische Solidarität treten: Alle Personen im Geltungsbereich der Verfassung würden in eine solche Solidaritätsgemeinschaft einbezogen und alle Einkommen, die in diesem Geltungsbereich entstehen, würden beitragspflichtig. Mit der Wiedergewinnung der sozialen Sicherheit für alle ist selbstverständlich verbunden, dass die Riester-Rente, jenes Mega-Geschäft privater Finanzunternehmen rückgängig gemacht und in eine allgemeine Bürgerinnen- und Bürgerversicherung überführt wird.

Solidarische Sicherheit bleibt ein unerträgliches Stückwerk, solange die Ungleichheit der Lebenschancen zwischen Männer und Frauen bestehen bleibt. „Mädchen lernen besser, Jungen steigen auf“, so war am Wochenende in einer renommierten Zeitung zu lesen. Was läuft da schief? Der Kapitalismus hat die Diskriminierung der Frauen zwar nicht geschaffen, aber durch die Trennung von Produktions- und Wohnort verschärft. Wie kann eine robuste Demokratie das schiefe Geschlechterverhältnis, die unfaire Arbeitsteilung und ungleiche Rangstellung überwinden?

Die deutsche Wirtschaft ist extrem industrielastig. Dadurch wird eine radikale Umschichtung der Branchen- und Arbeitsstrukturen blockiert. Dabei liegt die Zukunft der Arbeit in der Arbeit an den und mit den Menschen. Die in Zukunft kostbarste Ressource sind nicht der Grund und Boden oder das Kapital und die Technik, sondern Menschen, die mit entsprechend fachlicher, emotionaler und kommunikativer Kompetenz ausgestattet sind. In der Agrarwirtschaft war die Kompetenz des Säens, Pflanzens und Erntens gefragt, in der Industriewirtschaft das Zählen, Wiegen und Messen. Wenn jedoch die personennahen Dienste das Schwergewicht der Nachfrage bilden, sind die Kompetenzen des Helfens, Heilens, Begleitens und Beratens verlangt.

Dies bedeutet, dass die Deutschen das Übergewicht der Industriearbeit zugunsten personennaher Dienste, also von Bildungs-, Gesundheits-, Pflege- und Kulturleistungen abschmelzen und die Wertung, Anerkennung und Bezahlung dieser Dienste umkehren müssen Die Arbeit in der Chemie- sowie in der Eisen- und Stahlindustrie gilt immer noch als besonders wertvoll, wird komfortabel entlohnt, weil auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad hoch ist, um entsprechende Lohnforderungen durchzusetzen. Ganz anders jedoch die öffentliche Wertung, die gesellschaftliche Anerkennung und die Entlohnung der Menschen, die im Einzelhandel, im Gast- oder Reinigungsgewerbe, im Krankenhaus als Pflegerinnen und Pfleger bzw. als Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten beschäftigt sind. Sie werden von den männlichen Gewerkschaftern als geringwertig angesehen, weniger anerkannt und mit einem Abschlag entlohnt. So bewertet der angebliche Arbeitsmarkt den Einsatz von Muskelkraft höher als das humane und soziale Engagement. Nicht der Markt, sondern die Machtverhältnisse einer patriarchalen Gesellschaft diktieren diese Ungleichheit der Geschlechter. Sie diktieren auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, dass nicht Männer radikal ihre Erwerbsarbeitszeit verkürzen und sich an der privaten Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit beteiligen, sondern den Frauen allein die Doppelbelastung zumuten, Familie und Beruf zu vereinbaren. Sind männliche Gewerkschaftsmitglieder fähig und bereit, Geschlechtergerechtigkeit, und den patriarchalen Kapitalismus zu verabschieden? Oder bleibt eine gewerkschaftliche Solidarität über Branchengrenzen hinweg Fehlanzeige? Den Arbeitgebern, den politisch Verantwortlichen und der Gesellschaft würden die Augen aufgehen, wenn Chemiker, Metaller oder Stahlkocher aus Solidarität mit Kindergärtnerinnen, Krankenschwestern, Reinigungskräften oder Verkäuferinnen streiken und auf der Straße gegen die Ungleichheit von Männern und Frauen protestieren.


2. Gerechte Arbeit – eher ein Ausnahmefall?

Schlechte Arbeit ist schlecht gemachte Arbeit. Von denen, die alle Macht haben, abhängige Arbeit schlecht zu machen. Unter kapitalistischen Verhältnissen ist gerechte Arbeit eher unwahrscheinlich, ein Ausnahmefall. Die moderne Arbeitsgesellschaft hat zwar einen egalitären Charakter. Sie erwartet, dass jedes ihrer Mitglieder zunächst durch eigene Arbeit sich den Lebensunterhalt erwirbt. Erst wenn die Einzelnen dazu nicht in der Lage sind, springt die Gesellschaft ein, um zu helfen. Ein solcher Vertrag auf Gegenseitigkeit funktioniert aber nur solange, wie die Gesellschaft diese Bringschuld einlöst. Und die Zumutung der Gesellschaft an die Einzelnen ist nur dann gerecht, wenn diese alles unternimmt, damit jedem, der arbeiten kann und will, eine Arbeitsgelegenheit angeboten wird – im öffentlichen Dienst oder in privaten Unternehmen. Nun werden wir mit der Legende der politisch Verantwortlichen eingenebelt, dass wir in einer sozialen Marktwirtschaft leben, in der jeder seines Glückes Schmied ist. Aber den Amboss und die Schmiede stellt die angeblich soziale Marktwirtschaft uns nicht bereit.

Darüber hinaus ist das Gefasel von der sozialen Marktwirtschaft Opium des deutschen Volkes. Denn die genialen Erfindungen des Marktes, der elastischen Geldversorgung, einer hochgradig entwickelten Technik und der privatautonom organisierten Unternehmen ist in eine Schieflage von einseitigen Machtverhältnissen eingebettet. Die macht eine kapitalistische Marktwirtschaft so destruktiv. Als nämlich die Bauern von der Leibeigenschaft befreit wurden, konnten sie ihre Partnerin, ihren Wohnort und den Arbeitgeber zwar frei wählen, waren aber gleichzeitig ihrer Existenzgrundlage beraubt. Im Gegensatz dazu wurden die Feudalherren nicht von ihrem Grund und Boden sowie von ihrem Sach- und Geldvermögen befreit. Diese Schieflage der Vermögensverhältnisse besteht bis auf den heutigen Tag: Einer Minderheit der Bevölkerung gehören die Produktionsmittel, dagegen hat eine Mehrheit nur ihr Arbeitsvermögen, das sie der anderen Gruppe überlassen und sich dabei einem fremden Willen unterwerfen muss, um den Lebensunterhalt zu gewinnen.

Diese Schieflage der Macht ist dafür verantwortlich, dass die unternehmerische Wertschöpfung, der Reichtum eines Volkes zwar gemeinsam durch das Arbeitsvermögen, das Naturvermögen, das Gesellschaftsvermögen und das Geldvermögen erwirtschaftet wird, dass aber die kapitalistische betriebswirtschaftliche Logik jene Wertschöpfungsanteile, welche die Arbeitskräfte, welche die Gesellschaft durch die öffentliche Infrastruktur, die Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie die unentgeltliche Hausarbeit und welche das Naturvermögen bereit stellen, als Kostenfaktoren definiert und möglichst niedrig entlohnt werden. Das Ziel des kapitalistischen Unternehmens dagegen besteht ausschließlich in der Mehrung des Geldvermögens. Dies ist die Ursache der wachsenden Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung zwischen reichen und armen privaten Haushalten sowie zwischen den öffentlichen und privaten Haushalten in Deutschland und nicht nur in Deutschland. Sie ist durch den Finanzkapitalismus noch extrem zugespitzt worden.

Wie kann eine einigermaßen ausgewogene Verteilung der Einkommen und Vermögen wieder hergestellt werden? Durch eine Stärkung der Tarifautonomie, ein gesetzliches Verbot der Tarifflucht, durch einen gesetzlichen Mindestlohn, durch eine erneuerte Regulierung der Arbeitsverhältnisse zugunsten der abhängig Beschäftigten, vor allem jedoch durch eine Beteiligung der Arbeitnehmer an der Entscheidungsmacht über die Unternehmensziele, die Wertschöpfung und deren Verteilung, eine wirksame Mitbestimmung am Arbeitsplatz, im Betrieb und in den Entscheidungsgremien der Unternehmen. Zudem muss der Staat den marktwirtschaftlichen Wettbewerb wiederherstellen. Dieser ist nämlich brüchig geworden, seitdem die Regierenden vor der privaten Lobbymacht der Konzerne und Großbanken eingeknickt sind.


3. Ein Europa der Deutschen – kann das Europa sein?

Die Deutschen seien deshalb so elegant aus der Finanz- und Wirtschaftskrise heraus gekommen, weil sie die notwendigen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen bereits hinter sich haben, die andere Länder noch vor sich hätten. „Spanien macht jetzt den Schröder“, war vor kurzem in einer Zeitung zu lesen. Wie missraten diese Reformen inzwischen sind, kann man hinter den Kulissen des angeblichen Jobwunders beobachten: Einkommen und Vermögen wurden von unten nach oben umverteilt, Bezieher von Gewinneinkommen steuerlich privilegiert, billige Arbeitskräfte den Unternehmen zugeschwemmt, Großbanken, Versicherungskonzerne und Investmentfonds aus rechtlichen und politischen Bindungen entlassen.

Die Krise, die jetzt in Europa inszeniert wird, ist nicht ein Kreuzzug tugendhafter Staaten gegen unsolide Regierungen, wie etwa Griechen oder Portugiesen oder Spanier. Es geht um einen grundlegenden Konflikt zwischen privater Kapitalmacht und der demokratisch legitimierten Staatsmacht. In diesem Konflikt wurden bereits mehrere europäische Regierungen ausgewechselt. Wer hat den stärkeren Arm, die besseren Nerven und den längeren Atem? Es geht darum, ob die Staaten in die Geiselhaft der Finanzakteure genommen werden, ob die angebliche Stimme der Finanzmärkte den Regierungen diktiert, was vernünftige Politik sei, nämlich die Gewerkschaften in Schach halten die Löhne moderat sich entwickeln lassen, Steuern und Abgaben senken und möglichst wenig Umverteilung zulassen – oder ob die Staaten sich gegen die Finanzlobby und die spekulativen Attacken, denen einzelne Mitglieder des europäischen Währungsraum ausgesetzt sind, kollektiv behaupten und ob sie jene Regeln durchsetzen, die auf der ersten Sitzung der G 20 in London beschlossen worden waren.

Wir sind Zeugen einer paradoxen Auseinandersetzung: Diejenigen, die zuerst die Finanzsphäre, dann die Wirtschaft und schließlich die Gesellschaft in eine ruinöse Krise hinein gezogen haben und die ihre Rettung den Staaten verdanken, die sich dabei hoch verschuldet haben, werfen nun den Staaten vor, dass sie hoch verschuldet sind und diese Schulden nicht schnell genug auf die unteren Bevölkerungsschichten abwälzen. Folglich sollen sie ihre Haushalte ausgleichen, die Bereitstellung öffentlicher Güter, Löhne und Sozialleistungen kürzen, Schuldenbremsen und Spardiktate beschließen und einen Teil ihrer Bevölkerung in die Armut treiben, ohne sie selbst an den Kosten, die sie verursacht haben, zu beteiligen. Deshalb fehlt das Geld für Erzieherinnen, Lehrer, Pflegekräfte und einen ehrgeizigen ökologischen Umbau, während die Kaufhäuser von privaten Gütern überquellen. Wenn die Aufblähung privater Vermögen, die durch Bankenkredite finanziert worden war, die Krise verursacht hat, wäre es nun gerecht, die aufgeblähten privaten Vermögen zu vernichten und gleichzeitig den attackierten Staaten die Schulden zu erlassen.

Wie sollen die europäischen Staaten den spekulativen Attacken gegen einzelne ihrer Mitglieder begegnen? Nicht dadurch, dass die wirtschaftlich starken Länder ihre Solidarität gegenüber den weniger starken aufkündigen. Europa darf nicht bloß als eine technische Anstalt für reibungslosen Zahlungsverkehr begriffen werden, sondern als ein politisches Vorhaben. Es entstand mit dem Marshall-Plan, wurde aufgebaut durch die Römischen Verträge, den Gemeinsamen Markt, die Nord-, Süd- und Osterweiterung und die Währungsunion. Es hat den Völkern vom Atlantik bis zur Wolga offene Grenzen und einen 60-jährigen Frieden gebracht.

Regionale Solidarität ist für föderal strukturierte Nationen selbstverständlich. In Deutschland gibt es den horizontalen Finanzausgleich zwischen den Ländern und finanzielle Zuwendungen des Bundes an finanzschwache Länder. So wird dem Verfassungsauftrag entsprochen, der gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet vorschreibt. Etwas Vergleichbares muss für Europa gelten. Folglich muss der Konstruktionsfehler der Währungsunion beseitigt werden, in der es nur zwei monetäre Stellgrößen gibt, nämlich die Stabilität des Preisniveaus und den Ausgleich öffentlicher Haushalte, inzwischen noch zugespitzt durch Schuldenbremsen und einen Fiskalpakt. Spardiktate allein erzeugen jedoch keinen Wohlstand für alle, bloß weitere Privilegien für wenige und ein allgemeines Schrumpfen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

Europa braucht kein hegemoniales Deutschland. Europa braucht öffentliche Institutionen der Solidarität, wie sie im Bretton Woods-System der Nachkriegszeit bestanden: eine Zentralbank, die für die Stabilität des Preisniveaus und für hohe Beschäftigung sorgt, einen Währungsfonds, der die Ungleichgewichte zwischen den Staaten ausgleicht und eine Entwicklungsbank, die Wohlstandsimpulse in den wirtschaftlich benachteiligten Regionen auslöst. Geldpolitik und Fiskalpolitik sind bloß Bruchstücke eines gemeinsamen Europas. Sie müssen durch eine koordinierte Beschäftigungs-, Verteilungs- und Sozialpolitik flankiert werden.

Europa braucht auch eine Solidarität der Gewerkschaften über nationale Grenzen hinweg. Es darf kein verwegener Traum bleiben, dass die wirtschaftlich starken Chemiker, Metaller, Ärzte, Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland solidarisch mit den protestierenden Gewerkschaften in Griechenland, Spanien oder Italien auf die Straße gehen und um gleichwertige Lebensbedingungen europaweit kämpfen.

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