"Amazon erstickt am eigenen Wachstum"

[Weinheimer Nachrichten vom 02. Dezember 2011]

DGB: Veranstaltung im Rolf-Engelbrecht-Haus über die Arbeitsbedingungen beim weltweit größten Internet-Versandhändler in Bad Herfeld / Vortrag von Heiner Reimann.

Weinheim. Das geplante Gewerbegebiet auf dem bislang landwirtschaftlich genutzten Areal "Breitwiesen" bewegt die Bevölkerung, wie die 5000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren gezeigt haben. Das "Schreckgespenst" einer Ansiedlung des weltgrößten Internetversandhändlers Amazon, das gerüchteweise in diesem Zusammenhang immer wieder ins Spiel gebracht wird, tut dies offenbar weit weniger. Kaum mehr als 15 Zuhörer kamen jedenfalls zu einer Veranstaltung des DGB im Rolf-Engelbrecht-Haus, bei der es um die Arbeitsbedingungen bei Amazon ging.

ver.di-Gewerkschafter Heiner Reimann, der sich in Bad Hersfeld um die Beschäftigten von Amazon kümmert, machte am Ende der Veranstaltung auf Nachfrage deutlich: "Ich würde den Weinheimer Gewerkschaftskollegen nicht empfehlen, gegen eine mögliche Ansiedlung von Amazon zu kämpfen. Aber ich würde ihnen dringend raten, sich intensiv für annehmbare Arbeitsbedingungen einzusetzen."

Kontrollen in Echtzeit

Denn daran mangele es allzu oft an den Standorten des Versandriesen in Deutschland. Der Leistungsdruck sei enorm. So würden die Mitarbeiter, die mit Handscannern die Ware im Lager kommissionieren, mit diesen Geräten gleichzeitig kontrolliert, weil die EDV das Arbeitstempo in Echtzeit auswertet. Wenn jemand zu langsam sei, dann erhalte der Mitarbeiter prompt einen Rüffel per E-Mail auf den Handscanner. Dabei sei der Umgangston mitunter alles andere als zimperlich (Zitat: "Beweg deinen Arsch!").

Mehr Saison- als Stammpersonal

Zwei Drittel der Beschäftigten in Bad Hersfeld, wo normalerweise 3700 Menschen für Amazon arbeiten, hätten befristete Verträge. Im vierten Quartal, also zum Weihnachtsgeschäft, herrsche dann der absolute Ausnahmezustand. "Neun Monate lang geht’s rund, aber das vierte Quartal ist unbeschreiblich", berichtete Reimann. Dann würden zusätzlich 4500 Saisonkräfte eingestellt, um das förmlich explodierende Auftragsvolumen bewältigen zu können.

Sollte Weinheim tatsächlich als Standort für Amazon in Frage kommen, dann rechnet Reimann damit, dass der Versandhändler hier ein Logistikzentrum mit 1500 Mitarbeitern bauen würde; für das Weihnachtsgeschäft kämen dann 2000 Saisonkräfte hinzu. Dass Amazon derzeit massiv auf Wachstumskurs ist, merkt man bei der Gewerkschaft ver.di auch daran, dass es zahlreiche Anfragen für Vorträge über die Arbeitsbedingungen gibt; so zum Beispiel auch aus Pforzheim, das kürzlich als möglicher Standort bekannt wurde (wir berichteten). "Die ersticken am eigenen Wachstum", fasste Reimann seinen Eindruck zusammen.

Die meisten Jobs bei Amazon seien einfache Tätigkeiten, die man innerhalb von zwei bis drei Stunden erlernen könne. Allerdings sei der Job körperlich anstrengend: 10 bis 20 Kilometer lege ein Arbeiter im Schnitt pro Tag zurück. Die Bezahlung liege dabei weit unter Tarif, dafür stelle Amazon überwiegend Vollzeitkräfte ein, was in der Branche eher unüblich sei. Rund 1500 Euro brutto monatlich verdiene ein Arbeiter in den ersten sechs Monaten, danach seien es 1800 Euro.

13 Prozent im Krankenstand

Die Folgen des Leistungsdrucks machte Reimann am hohen Krankenstand fest: Rund 13 Prozent der Belegschaft seien derzeit krankgeschrieben. Aber auch die allgemeinen Arbeitsbedingungen seien bedenklich. Reimann nannte ein Beispiel: Da die Schicht für alle Mitarbeiter gleichzeitig endet, würden sich erst lange Staus an den Stechuhren und später auf dem Firmenparkplatz bilden. Die Folge: In der Regel bräuchten Mitarbeiter 45 Minuten, bis sie nach Schichtende das Firmengelände tatsächlich verlassen haben. Das Fazit des ver.di-Gewerkschafters: "Ich würde Amazon nicht verteufeln. Es ist ein Chance für viele Menschen, wieder Arbeit zu finden. Aber für uns als Gewerkschafter bedeutet es eben auch jede Menge Arbeit." pro

Wer mehr über die Arbeitsbedingungen bei Amazon wissen möchte oder sich für Kommentare von Mitarbeitern des Versandhändlers interessiert, findet im Internet unter www.amazon-verdi.de jede Menge Informationen.

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